Die Einritzungen auf der lebensgroßen Sandsteinsäule lassen schemenhaft menschliche Züge erahnen. Wer den Stein betrachtet, bleibt unweigerlich an dem rätselhaften Eirund mit den zwei Punkten haften, die an ein Augenpaar erinnern. Hinter diesen zunächst einfach anmutenden Zeichen steckt mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Der Menhir aus dem Großsteingrab von Langeneichstädt gibt mit seiner Symbol- und Zeichensprache Einblicke in die komplexen magischen Vorstellungswelten vor mehr als 5.000 Jahren.
Lediglich der untere Bereich ist weitgehend unbearbeitet. Es handelt sich hier um den Sockel, der ursprünglich in den Boden eingetieft war. Der Menhir stand ursprünglich aufrecht im Gelände – darauf deuten auch die Verwitterungsspuren des Sandsteins. Wo der Menhir stand, bevor er in das Großsteingrab von Langeneichstädt eingebaut wurde und welche Bedeutung er zu diesem Zeitpunkt hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Möglicherweise markierte er einen Grabhügel. Erinnerte die menschenähnliche Gestalt an eine verstorbene Person oder haben wir es hier mit dem Abbild einer Gottheit zu tun?
Der Menhir mit „Dolmengöttin“ wurde 1987 als Deckstein in einem Steinkammergrab in Sichtweite der Eichstädter Warte entdeckt. Er gehört zu den in Mitteleuropa äußerst seltenen Beispielen verzierter Menhire, die an eine menschliche Gestalt erinnern. Der circa 1,70 m und damit annährend lebensgroße Sandsteinblock ist rundherum steinmetzartig zugerichtet. Die Oberfläche zeigt Bearbeitungsspuren von Werkzeugen und verschiedene Symbole und Verzierungen.
Im Westen Europas erwacht im 5. Jahrtausend vor Christus ein neuer Gedanke: Es wird monumental gebaut.
Neben riesigen Langhügeln, die als Grabbauten dienen, sind dies vor allem Bauten aus großen Steinen (griech. „mégas“ = groß, „lithos“ = Stein). Megalithgräber und Menhire sind Zeugen dieser frühen Monumentalität.
Der Begriff Menhir stammt aus der bretonischen Sprache und bedeutet so viel wie „langer Stein“ (Men= Stein, hir = lang).
Die mitunter tonnenschweren Menhire wurden von Menschen oft an markanten Orten aufgerichtet und sind heute noch vielfach an Ort und Stelle zu finden. Es gibt sie sowohl in unbearbeiteter Form als „Findlinge“, aber auch steinmetzartig behauen als Säulen- oder Plattenmenhire.
Die eindrucksvollen Riesen gehören zu den bekanntesten Denkmälern der Vorgeschichte und dennoch geben sie uns bis heute Rätsel auf. Bis in die heutige Zeit ranken sich unzählige Mythen und Sagen um die „langen Steine“. Ihre Bedeutung ist noch nicht enträtselt: Von Grenzsteinen und Landschaftsmarken bis hin zu „Seelenthronen“ oder „Ahnenleibern“ reicht die Palette der diskutierten Interpretationen.
Der Menhir von Langeneichstädt ist mit verschiedenen Gravuren, Symbolen, Löchern und schalenartigen Vertiefungen übersehen. Besonders auffällig ist die Verzierung im oberen Bereich des Menhirs: Ein gestieltes Oval ist durch quer- und längsverlaufende Linien in mehrere Felder unterteilt. Die oberen zwei Felder sind mit zwei punktförmigen Einkerbungen versehen. Das Motiv erinnert an ein menschliches Gesicht. Es wird von einigen Forschern und Forscherinnen mit dem Motiv der „Dolmengöttin“ in Verbindung gebracht, das auf westeuropäische Vorbilder von Menhiren und Felsbildern zurückgeht:
Die Verzierungen auf dem Menhir von Langeneichstädt sind stark stilisiert – nur die Augen und die Kreisform lassen noch menschliche Züge erkennen. Die „Dolmengöttin“ und ihre westeuropäischen Vorbilder werden oft mit einer Muttergöttin, die für Fruchtbarkeit und Leben steht, in Verbindung gebracht.
Andere Forscher*innen sehen in dem Oval eher ein stilisiertes Kampfschild, das vielleicht den Schutz der Ahnen symbolisieren könnte. Im Rahmen von Ahnenkulten gibt es Hinweise auf derart „beseelte“ Schilde, die dann den Krieger mit der besonderen Macht der Ahnen im Kampf unterstützen.
Am oberen Ende des Menhirs ist eine kleine schälchenartige Vertiefung erkennbar, die als „Scheitelnapf“ bezeichnet wird. Derartige Schalengruben sind sowohl von Megalithanlagen als auch von zahlreichen Felsbildern bekannt. Ihre Funktion und Bedeutung lassen sich jedoch nur schwer erschließen.
Aus Schriftquellen jüngerer Epochen ist überliefert, dass man mitunter Gestein entnahm. Als zermahlenes Pulver verleibten sich Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf diese Weise die Kräfte ein, die sie den Steinen zuschrieben. Weitere Löcher und Vertiefungen auf der Stele von Langeneichstädt könnten auf eine mehrfache Entnahme von Gestein hinweisen.
Die Seitenbereiche des Menhirs weisen deutliche Glättspuren auf, die wahrscheinlich auf häufiges Berühren des Steins zurückzuführen sind. Derartige Praktiken lassen sich auf magische Vorstellungen zurückführen: Durch das Berühren des Steins, so glauben einige Menschen bis heute, könne es zu einer Kraftübertragung kommen. Der Stein wird dabei oft als Sitz einer verstorbenen Ahnenseele oder einer Gottheit verehrt, die magische Kräfte birgt und Einfluss auf das Leben der Menschen im Diesseits hat.
Diese Form von kontaktmagischen Vorstellungen ist in ethnographischen und historischen Überlieferungen an verschiedenen Orten der Welt überliefert. Das Berühren von Menhiren steht dabei häufig mit dem Wunsch nach Schutz vor bösen Mächten, allgemeinem Wohlergehen, der Hoffnung auf eine Schwangerschaft oder einer glücklichen Geburt in Verbindung.
In einem kompakten Gebiet in Sachsen-Anhalt sind weitere Großsteingräber bekannt, in denen verzierte Menhire verbaut wurden.
Die Beispiele Pfütztal, Dingelstedt und Schafstädt zeigen, dass in Sachsen-Anhalt offenbar Ideen aus Westeuropa aufgenommen wurden. Grund dafür könnten neben der günstigen Lage der Region vor allem die hiesigen Rohstoffvorkommen von Salz und Kupfer gewesen sein, die schon in der Jungsteinzeit über weite Strecken transportiert wurden. Mit dem Austausch und Handel verbreiteten sich auch Ideen und religiöse Vorstellungen.
Der Plattenmenhir von Schafstädt wurde als Wandstein in einem bronzezeitlichen Steinplattengrab entdeckt. Die Bildseite zeigte ins Innere der Grabkammer, der Stein stand jedoch auf dem Kopf. War die Bedeutung des Menhirs zum Zeitpunkt des Grabbaus bereits in Vergessenheit geraten?
Der Menhir von Schafstädt, links: © LDA Sachsen-Anhalt, Foto: J. Lipták, rechts: Umzeichnung: Müller 1996, S. 171.
Der Plattenmenhir von Pfützthal wurde als Deckstein in einem bronzezeitlichen Steinpackungsgrab verbaut. Die Bildseite zeigte dabei in das Grabinnere. Der Kopfteil, auf dem sich vermutlich die Augen befanden, war bereits abgebrochen, bevor der Menhir eingebaut wurde.
Der Menhir von Pfützthal, links: © LDA Sachsen-Anhalt, Foto: J. Lipták, rechts: Umzeichnung: Müller 1996, S. 171.
Der Menhir von Dingelstedt wurde 1925 als Deckplatte in einem frühbronzezeitlichen Steinkistengrab gefunden. Auch hier zeigte die verzierte Seite ins Innere des Grabes.
Der Menhir von Dingelstedt, links: © LDA Sachsen-Anhalt, Foto: J. Lipták, rechts: Umzeichnung: Müller 1996, S. 170.
Der Säulenmenhir von Seehausen ist reliefartig bearbeitet und mit verschiedenen Symbolen verziert. Die Darstellung wird als Mensch oder Gottheit interpretiert. Anstelle eines Gesichtes findet sich hier ein Ringsymbol. Die schrägen Linien werden als Gürtel gedeutet.
Der Menhir von Seehausen, links: © LDA Sachsen-Anhalt, Foto: J. Lipták, rechts: Umzeichnung: Müller 1996, S. 171.
Der Menhir aus Langeneichstädt ist aus mehreren Gründen eine Besonderheit: Zwar kennen wir aus Sachsen-Anhalt eine vergleichsweise große Zahl von Menhiren. Doch nur die wenigsten von ihnen sind figürlich verziert oder überhaupt in irgendeiner Weise bearbeitet. Menhire in stilisierter Menschengestalt wie die „Dolmengöttin“ aus Langeneichstädt treten in Sachsen-Anhalt in der Zeit zwischen 3100 und 2200 v. Chr. vor allem im Grabkontext auf. Die Steine markierten wahrscheinlich zunächst Grabhügel oder bedeutende Orte. Erst später wurden sie als Baumaterial (so genannte Spolien) in Großsteingräbern wiederverwendet. Viele dieser Steine dürften daher wahrscheinlich deutlich älter sein als die Gräber, in denen sie verbaut wurden.
Auch der Menhir von Langeneichstädt gelangte als Spolie in das Großsteingrab. Als einer von fünf erhaltenen Decksteinen fiel er den Ausgräbern zunächst nicht auf, denn der verzierte Bereich zeigte in das Innere der Grabkammer. Wollte man den Verstorbenen durch den Einbau des Menhirs einen besonderen Schutz zukommen lassen? Sie vielleicht vor Grabräubern schützen? Wählte man bewusst einen Stein für den Bau der Grabanlage aus, der schon viele Generationen als ein sakrales Relikt vergangener Zeiten verehrt wurde?
Oder hatte die „Dolmengöttin“ für die Erbauer des Langeneichstädter Großsteingrabes längst keine Bedeutung mehr und wurde hier lediglich als profanes Baumaterial recycelt?
Behrens, H., Fasshauer, P. und Kirchner, H.: Ein neues innenverziertes Steinkammergrab der Schnurkeramik aus der Dölauer Heide bei Halle (Saale), in: Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 40, 1956, S. 13–50.
Fischer, U.: Die Gräber der Steinzeit im Saalegebiet. Berlin 1956.
Hille, A.: Die Keramik aus der Grabkammer mitteldeutschen Typs von Langeneichstädt, Kr. Querfurt. In: H.-J. Beier (Hrsg.), Selecta Praehistorica. Festschrift für Joachim Preuss. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 7 (Wilkau-Hasslau 1995), S. 69–72.
Müller, D. W.: Grabkammer vom mitteldeutschen Typ mit Menhir von Langeneichstädt, Kr. Querfurt. Ausgrabungen und Funde 33, 1988, S. 192–199.
Müller, D. W.: Kupferführende Kulturen im Neolithikum der DDR. Rassegna di Archeologia 7, Florenz 1988, S. 157–174.
Müller, D. W.: Jungsteinzeitliches Steinkammergrab an der Eichstädter Warte bei Langeneichstädt, Kreis Querfurt. Querfurter Heimatkalender, 1989/1990, S. 66–74.
Müller, D. W.: Die verzierten Menhirstelen und ein Plattenmenhir aus Mitteldeutschland. In: S. Casini / R. C. de Marinis / A. Pedrotti (Hrsg.), Statue-stele e massi incisi nell'Europa dell'età del rame. Notizie archeologiche Bergomensi 3, Bergamo 1995, S. 195–304.
Müller, D. W.: Entdeckungen bei der mittelalterlichen Warte von Langeneichstädt: eine mittelneolithische Steinkammer mit Dolmengöttin. Heimat-Jahrbuch Saalekreis 16, Halle (Saale) 2010, S. 21–25.
Müller, D. W.: Ornamente, Symbole, Bilder – Zum megalithischen Totenbrauchtum in Mitteldeutschland. Revue archéologique de l'ouest Suppl. 8, 1996, S. 163–176.
Perschke, R.: Das Motiv der "Dolmengöttin". Zur Genese eines pseudo-neolithischen Göttinnenkultes. In: J. K. Koch / C. Jacob / J. Leskovar (Hrsg.), Prähistorische und antike Göttinnen. Befunde - Interpretation - Rezeption. Frauen - Forschung - Archäologie 13, Münster 2020, S. 19–56.
Schwarz, R.: Menhire und verzierte Steinkammergräber. In: H. Meller (Hrsg.), Früh- und Mittelneolithikum. Kataloge zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle 2, Halle (Saale) 2020, S. 385–404.